Werte / Leitbild
Das übergeordnete Ziel der Leitlinie Kindeswohl ist es, ein praxistaugliches, wissenschaftlich fundiertes und wertorientiertes Gerüst für die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe zu bieten.
Sie bietet Arbeitshilfen, die ein transparentes und partizipatives Vorgehen im Klient*innenkontakt und in der professions- sowie organisationsüberschreitenden Kooperation erleichtern, indem sie ein Vorgehen nach den Eckpfeilern der gesetzlichen Legitimation anleiten und für alle Beteiligten nachvollziehbar machen. Sie stärkt fachliche Einschätzungen durch die Einarbeitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in Vorgehensleitfäden, die das Expertenwissen von Fachkräften nicht zu ersetzen suchen, sondern durch die konzeptionell verankerte Reflexion und Bezugnahme auf theoretische Wissensbestände die Professionalitätsentwicklung der Fachkräfte unterstützt.
Im Kern stehen die Aufgaben der behördlichen und freien Kinder- und Jugendhilfe. Im Umfeld der Kinder- und Jugendhilfe finden sich aber zahlreiche Menschen und Institutionen, die, wenn es notwendig ist, mit der Herausforderung konfrontiert sind, gut zusammenzuarbeiten, um das Wohl von Kindern zu sichern. Gerade in diesen Bereichen ist es von enormer Bedeutung, sich bewährende Denkgerüste für diese Kooperation zu entwickeln, damit Menschen, die nicht tagtäglich mit diesen Herausforderungen konfrontiert sind, auf gute Basiswerkzeuge zurückgreifen können.
Warum ist uns Haltung so wichtig dabei? Haltung ist ein mentaler und neuronal verankerter Bereitschaftszustand, mit unserer Umwelt und Mitmenschen in Kontakt zu treten. Sie beeinflusst unsere Wahrnehmung, unsere Bewertungen und damit unser Handeln viel tiefgreifender als einfache Handlungsvorgaben oder professionelle Techniken es jemals könnten. Im besten Fall speisen sich Techniken und Haltungen gegenseitig, formen sich aus und entwickeln sich weiter. Um zu verstehen, um was es uns in den beschriebenen Techniken und Arbeitshilfen geht, versuchen wir, die dahinterstehende Grundhaltung explizit zu machen – sie stellen den Kern der iLK dar. Die Anwendung der Arbeitshilfen ist immer auch eine Anregung, sich mit den eigenen Grundhaltungen zu beschäftigen. Eine persönliche professionelle Weiterentwicklung geht immer mit einer Entwicklung der eigenen Haltung einher.
Wir sind der Ansicht, dass die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe als Beziehungsarbeit verstanden werden sollte. Damit ist gemeint, dass man als Fachkraft immer mit anderen Menschen zu tun hat und Veränderungen nicht im Alleingang bestimmen kann. Man versucht, auf soziale Systeme Einfluss zu nehmen. Diese Einflussnahme findet in Begegnungen statt, in die die Eigenheiten, Motive, Vorstellungen etc. aller Beteiligten einfließen. Diese sind aufeinander bezogen und können deshalb nicht isoliert gesehen oder behandelt werden. Nachhaltige Veränderungen basieren auf einer ganzheitlichen Sicht des Menschen und des sozialen Systems. Wenn sich Menschen als Menschen begegnen - dann bezeichnen und erleben wir diesen Prozess als in-Beziehung-treten. Wenn man als Fachkraft in der Kinder- und Jugendhilfe wirksam sein will, muss man dies durch Beziehung tun.
In der Kinder- und Jugendhilfe darf es nie um das reine Managen von Fällen gehen. Vielmehr muss die Begleitung der Menschen im Zentrum des Handelns stehen. Gerade weil das oft viel fordernder ist, als es klingen mag (unter Umständen geht es darum, Menschen zu begleiten die diese Begleitung nicht wollen, Zustände in Familien zu kontrollieren…) ist es umso wichtiger, dass die Begegnung auf Basis einer authentischen und tragfähigen Arbeitsbeziehung stattfindet. Diese Beziehung ist ein bedeutsamer Faktor in der Erledigung der Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe, sie stellt die Basis dar, auf der Hilfen erst angeboten und angenommen werden können. Die Gestaltung und Reflexion der Beziehung zu den Klienten sollte also in den Arbeitsabläufen der Fachkräfte einen Platz haben.
Eine Beziehung wird durch die gegenseitige Positionierung der in-Beziehung-tretenden bestimmt. Wie sich jemand positioniert, hängt vom Rollenverständnis, in einer Arbeitsbeziehung zusätzlich vom Auftragsverständnis ab. Diese Positionierung muss über eine Deklaration guter Absichten hinausgehen und zu den Wurzeln der gesellschaftlichen und rechtlichen Legitimation vordringen. Wir sind der Überzeugung, dass das Rollenverständnis der Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe fest in der gesetzlichen Grundlage verankert sein muss, insbesondere wenn Freiwilligkeit von Klient*innen eingeschränkt wird oder gar Eingriffe in die Familienautonomie zum Inhalt werden. Fachkräfte müssen wissen, unter welchen Ausnahmenbedingungen derartiges Eingreifen möglich ist. Sie müssen transparent erklären können, warum sie in ihrer Rolle diese Bedingungen als gegeben annehmen und erklären können, zu welchen Schritten sie das Gesetz (und nur das Gesetz) verpflichtet bzw. berechtigt. Ebenso ist es wichtig, dass sie die Grenzen dieses gesetzlichen Auftrages erkennen. Niemals berechtigt das Gesetz zu einem vollinhaltlichen Entscheiden über Klient*innen. Immer bleibt ein Raum für partizipatives Gestalten. Diesen zu erkennen und Klient*innen in diesen einzuladen ist eine zentrale Aufgabe von Fachkräften in der Kinder- und Jugendhilfe. Die gesetzliche Legitimation muss durchgehend in der Beziehung für die Fachkraft handlungsleitend und in dieser Funktion für alle sichtbar und nachvollziehbar sein, denn sie setzt damit den Rahmen für den Beteiligungsprozess. Unter Bedingungen fehlender Transparenz in Bezug auf die grundlegende Legitimation hat Beteiligung immer den Anklang eines Aktes der Großmütigkeit der Fachkräfte was sie nicht ist und auch nicht sein darf.
Die Anforderungen an Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe sind hoch geworden, der Stress in der Arbeit ist beträchtlich, die Arbeit in einem System mit stets knappen Ressourcen, Zeitdruck und schwerwiegender Verantwortung bedeutet für viele, besonders in den ersten Jahren im Job, eine deutliche Belastung. Unter diesen Umständen bleibt für viele wenig Nerv für den Beziehungsaspekt der Arbeit. Gespräche werden von Klient*innen und Fachkräften beiderseits oft als unpersönliches Abhaken von Formularkästchen und Dokumentationspflichten erlebt.
Das Vertrauen, das funktionierende Arbeitsbeziehungen trägt, ist gerade für die komplexe und oft spannungsgeladene Zusammenarbeit, die in der Kinder- und Jugendhilfe geleistet werden muss, notwendig. Dieses Vertrauen muss bei hohem Personalwechsel von Klient*innen und Fachkräften nach jedem Wechsel wieder aufgebaut werden. Zu viele Wechsel führen oft dazu, dass Klient*innen dieses Vertrauen erst gar nicht mehr aufbauen sondern die Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe als zunehmend unpersönlich und unvorhersehbar empfinden.
Um das Angebot einer solchen Arbeitsbeziehung machen zu können, braucht es also dazu willige und fähige Fachkräfte, die auf der Basis eines gesunden Selbstbewusstseins die Begegnung mit Klient*innen suchen können. Es muss uns klar sein, dass die Anforderungen einer modernen Kinder- und Jugendhilfepraxis die Arbeit der Fachkräfte verändert hat. Sie sollen serviceorientiert agieren und Hilfen anbieten, gleichzeitig tragen sie die Verantwortung, nichts zu übersehen und haften auch dafür. Sie dürfen keine Gefahren übersehen oder unterschätzen, sollen trotzdem ressourcenorientiert vorgehen. Sie müssen wissen was Kinder brauchen und die Fähigkeiten der Eltern und deren ‘Kooperationsbereitschaft’ einschätzen und gleichzeitig aber Transparenz leben und Familien an allen Entscheidungen beteiligen. Sie sollen einen menschlichen, wertschätzenden Kontakt zu Klient*innen pflegen und gleichzeitig vorbildhaft dokumentieren und Formulare abarbeiten. All dies und mehr wird im Namen der Professionalität von Fachkräften gefordert – zurecht. Es muss uns aber auch bewusst sein, dass das sehr viel ist. Es wäre vermessen zu erwarten, dass die Fähigkeiten, dies zu leisten jede und jeder aus dem Studium mitbringt. Eine solche Leistung zu erbbringen darf nicht in die Verantwortung der einzelnen Fachkräfte geschoben werden. Diese Verantwortung muss vom gesamten System, vom Team und von Kooperationspartner*innen wahrgenommen und getragen werden. Die Frage: “Was braucht ihr, um ein solche Arbeit zu leisten” sollte öfter gestellt werden, die Wertschätzung für eine solche Arbeit sollte in der ganzen Gesellschaft öfter zum Ausdruck gebracht werden. Wer die Bedürfnisse der verletzlichsten Mitglieder unserer Gesellschaft im Blick haben muss, sollte nicht die eigenen ignorieren müssen. Wenn wir wollen, dass Fachkräfte all diese Dinge in ihrer Beziehung zu Klient*innen im Blick haben, sollten wir alle das in Bezug auf ebendiese Fachkräfte ebenfalls tun, da sonst die besagte Basis eines gesunden Selbstbewusstseins schnell brüchig wird.
Die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe konfrontiert Fachkräfte unweigerlich auch mit der Realität, dass sie eine Machtposition einnehmen. Das Gefühl Macht auszuüben, gerade in sehr schwierigen Situationen, wird vorwiegend als Stress und große Verantwortung erlebt. Die Frage, ob man berechtigt ist, sich in Familien einzumischen, ist nicht nur rechtlich relevant, sondern auch eine Frage, die massiv Einfluss auf das individuelle Belastungserleben im Job nimmt und so wieder auf Entscheidungen wirkt. Subjektiv wie auch objektiv betrachtet stellt die Frage nach der Legitimation für Eingriffe und Einmischungen in Familien einen wichtigen Angelpunkt in der Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe dar. Es eine in der Gesetzeslage verwurzelte Reflexion der Rolle, mit der Fachkräfte Klient*innen begegnen sollen, damit die dieser Rolle innewohnende Macht in der Begegnung mit Klient*innen im Rahmen eines legitimierten Auftrages der Gemeinschaft ausgeübt wird. Eine ebensolche Rollenklärung ist auch für Fachkräfte in anderen Bereichen notwendig, die mit Kindern arbeiten (in Schulen, Kindergärten, Krankenhäusern, etc.).
Oft wird von einer Begegnung 'auf Augenhöhe' gesprochen. Das klingt so, als würden sich zwei ebenbürtige und gleichberechtigte Parteien gegenübersitzen. Diese Vorstellung passt aus unserer Sicht nicht mit der Realität zusammen. Es wäre Schönfärberei, das Machtgefälle zu ignorieren. Fachkräften ist zwar keine hierarchisch höhere Stellung zugedacht, dennoch verfügen sie über mehr Wissen, wie das System funktioniert und nach welchen Regeln entschieden wird. Vor allem aber steht für sie meist weniger auf dem Spiel – es geht ja nicht um ihre Familie.
Oft sitzen Eltern, die mit allen möglichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben und oft in Notsituationen sind - sie sind auch meistens in einer anderen Welt aufgewachsen als ihr Gegenüber -, vor Sozialarbeiter*innen, die nach einer relativ behüteten Kindheit und Jugend studiert haben, vielleicht noch nie in einer wirklichen Notlage waren und oft auch noch keine Eltern sind, die sich in Ausführung ihrer beruflichen Aufgabe und der ihnen gesetzlich übertragenen Verantwortung in die Entscheidungen der Familie hineinreklamieren müssen. Oft begegnen sich hier nicht nur gänzlich unterschiedliche Lebenswege, Wahrnehmungsmuster und Erwartungshaltungen, sondern oft sprechen diese Personen auch in verschiedenen Sprachen. Sie sollen nach Regeln eines Systems, die oft nur die einen kennen, Lösungen für Probleme finden, die nur die einen so wahrnehmen und die in Familien umgesetzt werden sollen, in denen die anderen leben. Für eine Begegnung auf Augenhöhe gibt es also viele Hemmnisse. Wenn wir uns aber zum Ziel machen, auf Basis gegenseitigen Respektes zu einer Zusammenarbeit zu kommen, dann sind die Unterschiede keine Hinderungsgründe, sondern bereichern und erleichtern die Begegnung.
Das Kapital der Kinder- und Jugendhilfe sind die Kompetenz, das Feingefühl und die Erfahrung ihrer Fachkräfte. Leider bleiben zu viele nicht lange in der Kinder- und Jugendhilfe, oft nur gerade lange genug, um eine grundlegende Sicherheit im Umgang mit den Standardabläufen zu entwickeln. Weil die Verweildauer von Mitarbeiter*innen im Job tendenziell immer kürzer wird, ergibt sich für die verbliebenen Kolleg*innen die Herausforderung, dass sie im Rahmen häufiger Vertretungen bzw. Einschulungen oft ohne ausreichende Vorbereitungszeit in Fälle einsteigen müssen, die sie teilweise nur kurz begleiten.
Wir sind der Ansicht, dass Kinder- und Jugendhilfearbeit Expertenarbeit ist - d.h. die Qualität ist zu einem großen Teil von den beteiligten Personen abhängig (Stichwort Beziehungsarbeit), deren Kompetenz nicht durch Standardvorgehen ersetzt werden kann. Die Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe brauchen nicht nur ein fundiertes Wissen der Gesetzeslage, der kindlichen Entwicklung, familiärer Belastungslagen, des Sozialraums, des Hilfeangebots bzw. der regionalen Infrastruktur etc., sie müssen dieses Wissen auch den Kooperationspartner*innen und Klient*innen, Groß und Klein, erklären können, um erst die Grundlage für Beteiligung und Zusammenarbeit mit diesen zu schaffen. Sie müssen Fertigkeiten entwickeln, um das Wissen und die Fähigkeiten von Klient*innen zu aktivieren, um Veränderung anzustoßen. Vor allem im Zwangskontext ist dies eine hochkomplexe Aufgabe, in der Feingefühl, emotionale Kompetenz, Stressstabilität und Authentizität unabdinglich sind. Das notwendige implizite Prozesswissen kann nicht direkt vermittelt werden, sondern bildet sich durch begleitete und reflektierte Praxis. Das System muss seinen Beitrag zu dieser Entwicklung der individuellen Fachkräfte leisten. Eine Flut an detaillierten Vorgaben und Formularen verkommt zum Korsett, das professionelle Entwicklung erstickt – ja versucht überflüssig zu machen. Praktikable Arbeitshilfen wird es aber brauchen, um Fachkräfte zu unterstützen. Sie sollten aber vielmehr als Gehhilfen verstanden werden, die es erleichtern, implizites Prozesswissen zu erarbeiten und sich so, auf längere Sicht, selbst wieder entbehrlich zu machen. Die Verantwortung, sich professionell zu entwickeln, sollte demnach nicht jeder alleine tragen müssen. Es muss auch für eine Organisation, ein Team darum gehen, Fachkräfte in ihrer Entwicklung persönlich zu fördern - es wäre auch inkonsequent diesen Anspruch nur für die Klient*innen zu haben. Alleine zur Expert*in zu werden ist schwierig. Auch geschieht fachliche Weiterentwicklung nicht von selbst. Sie erfordert Neugier, eine Lernkultur, ständige Reflexion.
Expertentum kann ein verfänglicher Begriff sein – hier muss differenziert werden. Wir glauben nicht, dass Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe Experten für alles sind. Eher geht es darum, eine professionelle Bescheidenheit im Kontakt mit Klient*innen zu entwickeln. Kompetenz aufzubauen heißt, die Grenzen des eigenen Wissens und Könnens genauer zu kennen (siehe Dunning-Kruger-Effekt).
Zu oft glauben Leute zu wissen, was für Andere gut wäre, ohne mit diesen Anderen gesprochen zu haben. Fachkraft in der Kinder- und Jugendhilfe zu sein bedeutet nicht Klient*innen scheinbar richtige Lösungen aus Lehrbüchern überzustülpen. Wir sind der Meinung, dass Klient*innen ebenso als Expert*innen gesehen werden müssen. Egal wie gut wir über eine Familie oder Klienten Bescheid wissen, wir stecken nicht in ihrer Haut. Wir haben nicht in der Familie gelebt, uns nicht an die Gegebenheiten anpassen müssen.
Professionelle Bescheidenheit sollte sich nicht nur auf Lösungsvorschläge beschränken, sondern ebenso auf die Sicht des Problems. Oft ist eine gewisse Wertschätzung des Problems nötig um gangbare Alternativen aufzuzeigen – auf jeden Fall aber Wertschätzung des Lösungsversuches des Problems. Wir sollten uns immer wieder daran erinnern, dass (fast) jedes (Problem-)Verhalten, jedes Symptom auch als bestmöglicher Lösungsversuch einer Person für bestimmte Bedrohungen ihrer Bedürfnisse gesehen werden kann. Das heißt nicht, dass es die beste Lösung ist. Aber es war wahrscheinlich die bestmögliche Lösung für die Person in der Situation, als die Bedrohungen erstmals auftraten. Damals standen vielleicht nur eingeschränkte Ressourcen zur Verfügung (z.B. weil die Person noch ein Kind war, oder weil damals der Partner wenig unterstützend war, etc.). Leider sind diese Strategien in der Gegenwart nicht mehr die besten, ja oft sogar sehr problematisch. Warum halten sie sich so hartnäckig? Weil die Evolution unser Lernen mit gutem Grunde so geformt hat: Wir alle halten an Strategien fest, die einmal ausreichend gut funktioniert haben, um Bedrohungen abzuwehren oder uns befähigt haben angesichts dieser unser Kohärenzgefühl aufrechtzuerhalten. Gerade in bedrohlichen Situationen wäre es beinahe töricht auf einmal anfangen zu experimentieren - spielerische neue Versuche behält man sich besser für wenig riskante Situationen auf (leider kommen wir selten auf die Idee unsere Strategien zu reflektieren und spielerisch verändern). Wenn es um die Wurst geht, gehen wir besser auf Nummer sicher und greifen zu altbewährten Strategien. So setzen sich früh entwickelte Strategien oft sehr hartnäckig fort. Wenn wir etwas oft tun, werden wir besser darin. Wenn wir etwas gut können, tun wir es öfter. So kommt es, dass wir Strategien auf andere Kontexte übertragen. Das führt dann dazu, dass die Strategien, mit denen wir aktuellen Situationen begegnen, noch immer im Kern die gleichen sind wie die, die wir schon als Kind angewendet haben – auch wenn diese für die aktuellen Probleme nicht unbedingt ideal sind, weil sie wenig auf die Eigenheiten der Situation und auch auf die uns aktuell zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zurechtgeschnitten sind. Das Gleiche gilt übrigens weitgehend genauso für unsere professionellen Strategien.
Trotzdem heißt das nicht, dass sie in Stein gemeißelt sind. Wenn wir unsere Wahrnehmungsmuster hinterfragen können, die Situation als die erkennen die sie ist und ein adäquates Bild unserer Fähigkeiten und Ressourcen entwickeln, ergeben sich auch neue Ideen, Herausforderungen anders zu begegnen. Dann brauchen wir ausreichend Sicherheit um diese neuen Strategien auszuprobieren, denn in Angst experimentieren wir nicht. Erst wenn wir erlebt haben, dass neue Strategien tragen, wenden wir sie auch unter Druck an. Menschen, die eine klarere Sicht auf die gegenwärtige Herausforderung haben und eine klarer Vorstellung der eigenen Möglichkeiten, ihr zu begegnen, werden, wenn sie ausreichend auf ihre Fähigkeiten vertrauen, eine bessere Strategie im Umgang mit Herausforderungen entwickeln.
Wir sehen den Menschen also als grundsätzlich kompetent an. Ebenfalls denken wir, dass es für die Kinder- und Jugendhilfearbeit wichtig ist, davon auszugehen, dass Eltern im Allgemeinen das Wohl ihrer Kinder im Sinn haben und sie vor Gefahren schützen wollen. Wir sind sogar evolutionär darauf programmiert – sonst stünde es wohl um das Überleben unserer Spezies schlecht. Wenn wir erleben, dass Eltern nicht so für ihre Kinder da sein können, wie diese es bräuchten, dass sie ihre Kinder nicht ausreichend vor Gefahren schützen können, oder selbst zu Kindeswohlgefährdungen beitragen, so geschieht dies fast nie in einer Schädigungsabsicht. Sogar wenn Eltern ihre Kinder misshandeln, steckt oft Überforderung dahinter.
Diese Haltung kommt authentisch zum Ausdruck, wenn man im Gespräch mit den Eltern die Bedürfnisse der Kinder in den Mittelpunkt setzt, statt das elterliche Verhalten zu beurteilen (die sich daraus ganz automatisch ergebende Schuld-Thematik verstellt oft wichtige Gelegenheiten für Veränderungen). Man kann in den allermeisten Fällen davon ausgehen, dass der Zusammenarbeit ein gemeinsames Ziel zugrunde gelegt werden kann: dass es den Kindern gut gehen soll.
Diese Haltung ist durchaus kompatibel damit, dass die meist guten Absichten der Eltern nicht Erfolgsgarant genug sind, bzw. dass es vereinzelt auch nicht so gute Absichten gibt. Aus diesem Grund hat der Gesetzgeber der Kinder- und Jugendhilfe eine Kontrollfunktion zugewiesen, um ebenfalls auf das Kindeswohl zu achten. Wir sollten uns nur daran erinnern, dass in den allermeisten Fällen Eltern und Fachkräfte im Grunde das gleiche Ziel verfolgen, auch wenn sie nicht freiwillig zusammenarbeiten.
Eine Problemlage richtig zu erkennen, ist wichtig. Man sollte aber nicht vergessen, dass dies nur der erste Schritt ist und ihn nicht überbewerten. Die wirklich wahre Sichtweise auf die Probleme einer Familie (vorausgesetzt man nimmt an, dass es sowas gibt) ist weniger wert, als eine Sichtweise die nur etwas realistischer ist als die alte Sicht der Familie, die die Beteiligten aber annehmen können. Als Grundlage für Zusammenarbeit wird es eine Sichtweise brauchen, die allen erlaubt ihr Gesicht zu wahren. Sonst entsteht schnell eine Schulddynamik, die in Bedrohungsgefühl, Rechtfertigung, Ausflüchten etc. und nicht in einem Experimentieren mit neuen Strategien resultiert. Fachkräfte sollten sich immer wieder daran erinnern, dass sie zwar zu einer Einschätzung der Situation legitimiert sind, nicht jedoch dazu, die Familie oder die Eltern zu beurteilen, geschweige denn zu verurteilen. Bewertungen, die sich auf eine Person beziehen, werden oft als Verurteilungen wahrgenommen. Deshalb ist es für Fachkräfte wichtig, die eigenen Gefühle und Ansichten gegenüber Klient*innen zu reflektieren. Dass diese auf persönlicher Ebene auftauchen ist normal. Umso wichtiger ist, dass sich Fachkräfte aber wieder auf ihre professionelle Rolle besinnen, die eine andere Haltung und Aufgaben erfordert und deshalb auch zu einer anderen Sicht auf Klient*innen führt.
Konfrontation mit unliebsamen Aspekten der Realität wird sich nicht vermeiden lassen. Um den heißen Brei herumzureden ist ebenso wenig zielführend wie mit der Tür ins Haus zu fallen. Aber man sollte sich nicht in einer Schuldzuweisungsdynamik verstricken. Dabei hilft ein vereinender Fokus: der Blick auf die Bedürfnisse des Kindes. Das bedeutet, dass auch Aspekte wie z.B. eine elterliche psychische Erkrankung nicht als für sich alleine gültiges Argument angesehen werden, sondern in die konkreten Auswirkungen für die kindlichen Bedürfnisse übersetzt werden müssen. Auf Basis einer ehrlichen Arbeitsbeziehung, in der die Rollen und Zuständigkeiten geklärt sind, erleichtert es der gemeinsame Fokus auf die Kinder, konkrete Ziele und Schritte dorthin zu vereinbaren.
Die Kombination aus diesen Faktoren findet sich in verschiedenen Kontexten als bedeutsamer Prädiktor für Wirksamkeit wieder. In der Psychotherapieforschung zu unspezifischen Wirkfaktoren (common factors), die notwendig aber auch ausreichend für Veränderung sind. Der am besten untersuchte und gleichzeitig einer der bedeutendsten Faktoren ist die sogenannte 'Allianz', die aus drei Komponenten besteht (Laska et al., 2014): der Beziehung/Verbindung; Übereinstimmung in Bezug auf die Ziele; und Übereinstimmung in Bezug auf die anstehenden Aufgaben. Auch im Kontext der interprofessionellen Zusammenarbeit wird die Bedeutung der Rollenklarheit sowie der Ziel- und Aufgabenklärung betont (van Santen & Seckinger, 2012). „Das gemeinsame Verständnis des Auftrags sowie die Eindeutigkeit der Zielsetzung bilden wesentliche Elemente der Ausführungsqualität und der Effizienz in der interprofessionellen Zielerreichung.“ (Koller & Fraueneder, S. 53).
Diese Überlegungen und Haltungen sind aus unserer Sicht eine wichtige Grundlage für gelingende Partizipation in der Kinder- und Jugendhilfe. Wenngleich diese gesetzlich vorgeschrieben ist (Kinderechtskonvention, B-KJHG), so ist ihre Umsetzung in der Praxis so komplex und fordernd, dass sie ohne eine solche solide Grundlage nicht tiefere Wurzeln schlagen wird.
Partizipation ist keine großmütige Geste der Fachkräfte. Es muss uns bewusst sein dass, um Veränderungen zu bewirken, die Mitwirkung der Betroffenen notwendig ist. Je mehr sie in der Gestaltung des Wohin und Wie einbezogen werden, umso mehr werden sie davon auch umsetzen. Partizipation ist Notwendigkeit – ein bedeutender Wirkfaktor von Hilfen (Macsenaere & Esser, 2012), nicht nur ethische und gesetzliche Vorgabe. Fachkräfte können nicht ohne die Klienten, und Klienten dürfen nicht ohne Fachkräfte (wenn eine Kindeswohlgefährdung gegeben ist, die ein Eingreifen legitimiert).
Leider wird der Wirkfaktor Partizipation noch nicht in dem Maße umgesetzt, wie es für eine Verbesserung der Wirkung nötig und möglich wäre.“ (Macsenaere & Esser, 2012, S. 63). Partizipationsansätze, im Rahmen derer Klient*innen eher passiv an Hilfeplangesprächen teilnehmen, erhöhen die Wirkung von Hilfen nicht (Schmidt et al., 2003). Bei Partizipation genügt es nicht, lediglich nach den Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen sowie der Familien zu fragen. Erst recht reicht es nicht aus, diese Fragen in der Hilfeplanung zu stellen und zu erwarten, dass die Beteiligten sich zu diesem Zeitpunkt schon selbst angemessen erklären und einbringen könnten.“ (Macsenaere & Esser, 2012, S.60).
Wirksame Partizipation geht also weiter als Klient*innen zu informieren oder sie um ihre Meinung zu fragen. Beides ist wichtig – Partizipation bedeutet aber auch Entscheidungskompetenz teilweise abzugeben und ein Mitgestalten nicht nur zuzulassen sondern auch zu unterstützen. Um dies authentisch machen zu können, braucht man die Haltung, dass Klient*innen, und auch Kinder, gute Entscheidungen für sich treffen können. Auch wenn diese Überzeugung sich nicht in jedem Fall von selbst einstellt, so denken wir doch, dass man sie bewusst einnehmen sollte – um Partizipation eine Chance zu geben. Um effektiv partizipieren zu können, müssen Klient*innen aber mehr sein als nur Expert*innen für ihre eigene Situation. Gute Entscheidungen treffen und mittragen kann jedoch nur, wer die Sichtweisen seiner Verhandlungspartner versteht, weiß was deren Rolle ist und nach welchen Spielregeln die Zusammenarbeit stattfindet. Es gilt einen gemeinsamen Bezugsrahmen zu schaffen, eine gemeinsame Sprache sozusagen, die verhindert, dass Gespräche aneinander vorbei geführt werden. Als Angelpunkt für einen solchen Bezugsrahmen bietet sich wieder der gemeinsame Fokus auf die Bedürfnisse des Kindes an, anhand derer dann Sorgen/Probleme und Ressourcen, sowie mögliche Veränderungsbemühungen besprochen werden können.
Das Expertentum in der Kinder- und Jugendhilfe betrifft auch ein Gespür dafür, die Situation zu erkennen bzw. adaptiv zu konzipieren und ebenso die Kunst, Klient*innen zu motivieren, gemeinsam die Zukunft zu gestalten - das heißt, zur Partizipation einzuladen.
Fachkräfte haben die gesetzlich legitimierte Aufgabe, sich ein Bild von möglichen Gefährdungen des Kindeswohles zu machen und dann mit den Familien an einer Abwendung von Kindeswohlgefährdungen zu arbeiten. Sie müssen also nicht für alles eine Lösung haben – sie sollten auch keine zu starre Vorstellung von der richtigen Lösung haben. Aber sie sollten auf jeden Fall die rechtlichen Rahmenbedingungen der Zusammenarbeit und ihre Einschätzung der Kindeswohlgefährdung verständlich und transparent erklären können. Auf dieser Basis müssen sie dann auch für sich die Entscheidung treffen können, welche Lösungsvorschläge der Klient*innen sie als ausreichend erfolgversprechend einschätzen, um sie zu vereinbaren und welche sie nicht mitverantworten können. Ohne diese Klarheit wird eine Partizipation in einer derart komplexen Situation nur an der Oberfläche kratzen und ihren Namen nicht verdienen.
Partizipation wird erst dann von einer wohlgemeinten Forderung zur gelebten Notwendigkeit, wenn Fachkräfte Veränderungsverantwortung wieder an die Klient*innen zurückgeben können. Das ist nur möglich, wenn gleichzeitig klar ist, in welchen Bereichen das Vertrauen dazu nicht ausreicht und Fachkräfte ihre Rolle aktiv einbringen müssen - auf Basis eines klaren und transparenten Verständnisses des gemeinsamen Zieles und der gegenseitigen Rollen und Rechte.
Im Zentrum der interdisziplinären Leitlinie Kindeswohl steht somit die gemeinsame Sprache zur Benennung der Bedürfnisse der betroffenen Kinder auf Basis des § 138 ABGB Kindeswohl. Von den betroffenen Kindern und deren Eltern über die im Umfeld engagierten Helfer, bis zur Fachkraft der Kinder- und Jugendhilfe, weiter zu den Gutachtern, Anwälten und den Entscheidungsträger*innen der Justiz muss es möglich sein, das „Kindeswohl“ so zu beschreiben und herunter zu brechen, dass es alle verstehen.
Erst auf dieser Grundlage wird es möglich sein, vor dem Hintergrund der eigenen Sicherheit und Fachlichkeit, auch im Alltagsstress eine Arbeitsbeziehung aufzubauen, die Betroffene zu Beteiligten für die Entscheidungen über den gemeinsamen Veränderungsprozess werden lässt.