Vorwort
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser,
die interdisziplinäre Leitlinie Kindeswohl ist aus der Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe entstanden – aus einer Arbeit die ebenso wichtig wie belastend ist, eine Arbeit deren Ambivalenzen nicht 'im Büro' bleiben, sondern hartnäckig anhaften und Fachkräfte oft viele Stunden Schlaf kosten. Die persönliche Berührtheit, die die Verantwortung für Kinder mit sich bringt, die Spannung zwischen Hilfe und Zwang, Macht- und Schuldgefühlen zwingt zur Beschäftigung damit, wie man die eigene Rolle in dieser Arbeit findet. Die interdisziplinäre Leitlinie ist aus einer solchen beharrlichen Beschäftigung entstanden. Aus den Erfahrungen der sich wandelnden Praxis, in Abgleich mit der spezifischen Rechtslage und aus den praktischen Erfahrungen mit fachlichen Vorgaben entwickelte sich langsam ein Konzept, das eine tragfähige Grundlage für eine wissenschaftlich und fachlich informierte Praxis legt. Dieses Konzept hat die Ambition ein gemeinsames Verständnis von Kindeswohl im Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe und damit eine 'gemeinsame Sprache' für die Arbeit für Kinder und Jugendliche zu etablieren.
Die Leitlinie richtet sich zunächst primär an die Kolleginnen und Kollegen der Kinder- und Jugendhilfe an den Bezirksverwaltungsbehörden, den Oberbehörden sowie den freien und privaten Trägern und Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe in Österreich. In der erweiterten Zielgruppe befinden sich alle Personen, die der Meldepflicht nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz unterliegen. Das Konzept bietet eine Leitlinie im Alltag der verschiedenen Professionen (Gesundheit, Bildung …) zum Erkennen und dem richtigen Benennen von Umständen, die auf eine Kindeswohlgefährdung hindeuten können. Dabei wird der Fokus auf die Bedürfnisse des Kindes gelenkt und eine entsprechende Anleitung zur kollegialen Beratung und der Planung der weiteren Schritte gegeben.
Im Zentrum steht ein kindzentrierter Fokus in der gesamten Hilfeplanung. Die Orientierung an den Bedürfnissen der Kinder gibt die Linie vor. Die Falleinordnung im Rahmen der Leitlinie Kindeswohl soll ein transparentes und partizipatives Vorgehen im Hilfeverlauf unterstützen. Eng am gesetzlichen Rahmen orientiert hilft sie Fachkräften dabei, ein gemeinsames Verständnis der hilferelevanten Eckpunkte mit der Familie herzustellen. Die Sorgen um das Kind müssen klar sein, ebenso wie der gesetzliche Rahmen, wenn gemeinsam mögliche Lösungen erarbeitet werden sollen. Die Leitlinie Kindeswohl kann somit auch als Basis für Hilfeplangespräche, Familienrat oder zur Orientierung in der in einem Fall vorliegenden Information verwendet werden.
Die jüngeren Entwicklungen in der Kinder- und Jugendhilfe, die tragischen Fälle der Vergangenheit und die Aufarbeitung der Heimerziehung haben in der Konsequenz eine massive Orientierung an Gefährdungsmomenten zur Folge gehabt. Dies führte zu erheblichen Verbesserungen in den laufenden Standards (zB Vier-Augen-Prinzip und Beteiligung der Betroffenen) aber blieb im Fokus letztlich an der Gefährdungssituation hängen.
Um aber gemeinsam mit den betroffenen Familien einen Weg aus der Gefährdungssituation heraus zu finden, braucht es einen anderen Fokus, einen der eine gemeinsame Basis für zukünftige Bemühungen schaffen kann. Die Grundlage hierfür bietet der Gesetzgeber im § 138 ABGB. Die Leitlinie Kindeswohl baut auf die im ABGB genannten Kriterien für die Beurteilung des Kindeswohles auf: der Fokus, mit dem Gefährdungssituationen, aber vor allem deren Behebung verstanden und gemeinsam mit der Familie besprochen werden, sind die Bedürfnisse der Kinder. Dieser gemeinsame Fokus erleichtert es, Problemsituationen offen zu besprechen und Vereinbarungen im Dienste eines gemeinsamen Zieles zu schließen.
Dr. Hannes Henzinger und Mag.(FH) Georg Mitterer, September 2019
Wir haben uns beim Schreiben bemüht, geschlechterneutral bzw. alle Geschlechter ansprechend zu formulieren. Wenn wir etwas übersehen haben, bitten wir uns das nachzusehen. Jedenfalls werden alle Geschlechter gleichermaßen angesprochen und sollen sich auch angesprochen fühlen.