Hilfe zw. Zwang und Freiwilligkeit

Die Arbeit in der Kinder- und Jugendhilfe hat einen Ruf, der besser sein könnte. Nicht alle Leute wissen genau welche Arbeit dort geleistet wird, aber bei vielen ist die erste Assoziation: Das Jugendamt greift in Familien ein.

Auch wenn vielen die Bezeichnungen Jugendwohlfahrt oder Jugendamt noch geläufiger sind, seit dem B-KJHG 2013 ist der offizielle Name Kinder- und Jugendhilfe. Hilfe - wie geht das mit 'Einmischung' in Familien oder sogar der Herausnahme von Kindern unter einen Hut?

Die Ambivalenz, die dieser Arbeit inhärent ist, ist für die von der Kinder- und Jugendhilfe begleiteten Familien der emotionale “Beigeschmack” der Zusammenarbeit. Auch den dort arbeitenden Fachkräften ist sie sehr vertraut, wenngleich von einer anderen Seite. Mit dieser Ambivalenz umzugehen ist eine Herausforderung. Sie zu verdrängen funktioniert nur kurzfristig.

Natürlich kann man sich auf die angenehme Seite der Medaille konzentrieren - die Hilfe. Manchmal ist das Eis, das man dann betritt, aber dünn.

Wenn die Bereitschaft zur Annahme der angebotenen Hilfe nicht da ist, ist man dann noch Helfer? Wenn eine Gefährdung eines Kindes abgewendet werden muss, kommt man schnell ins Schwitzen. Man ist dessen Wohl verpflichtet und haftet auch für dessen Sicherung. Wie schnell man hier selbst in die Schusslinie geraten kann zeigen die tragischen Fälle, die zu den kurzen Momenten führen, in denen der Bekanntheitsgrad der Kinder- und Jugendhilfe in der Allgemeinbevölkerung kurz aufblitzt. Damit verbundene Prozesse erinnern nicht nur daran, dass man als Fachkraft auch auf der Anklagebank enden kann und Justitia zwar die Augen verbunden haben mag, aber durchaus nicht immun gegen den Druck vorherrschender Stimmungen ist.

Die Absicht, nur helfen zu wollen, dient in Gesprächen mit Klient*innen, in denen keine Einigkeit über Zweck und Mittel herrschen, nicht als Rückzugsbastion - es müssen Entscheidungen getroffen werden, möglicherweise drastische Einschnitte in das Leben von Menschen vorgenommen werden. Der Druck, der sich angesichts dieser Notwendigkeiten aufbaut, erleichtert die Aufgabe nicht unbedingt.

Aus unserer Sicht (und Erfahrung) ist eine einseitige Betonung von Hilfe weder hilfreich, noch tragfähig - nicht auf individueller Ebene und schon gar nicht als Konzept. Ein Konzept, das den Umgang mit Gefährdung nicht als Kernpunkt enthält, besteht den Stresstest der Praxis nicht - vielmehr verkennt es die gesetzliche Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe.

„Einer der Hauptgründe, dass die hoffnungsvolleren, auf die Beziehungsgestaltung gerichteten Ansätze meist keine wesentlichen Fortschritte auf dem Gebiet des Kinderschutzes erreichen konnten, liegt darin begründet, dass sie die Aufgabe der Risikobeurteilung zu stark vernachlässigt haben.“ (Turnell, 2012, S. 25)

Andererseits birgt ein zu starker Fokus auf eine Gefährdung ebenfalls ein Risiko - wer (Gefährdung) suchet der findet… Die Frage setzt den Rahmen für die möglichen Antworten, die darauf gefunden werden können. Wir neigen dazu, hilfreiche Werkzeuge, die wir uns zu eigen gemacht haben, auch auf andere als die ursprünglich vorgesehenen Probleme anzuwenden; wir meinen tendenziell immer öfter, passende Anwendungsgelegenheiten zu kennen. Eine einseitige (methodische/konzeptionelle) Stärke in der Gefährdungseinschätzung kann dazu führen, dass die Methode die Realitätswahrnehmung überschattet, nach dem Motto: wer einen Hammer hat, für den sieht bald alles aus wie ein Nagel.

Es ist wichtig, Prozesse entsprechend ihrem Zweck in der größeren Aufgabe der Kinder- und Jugendhilfe zu verstehen und einzusetzen. Gefährdungseinschätzung und deren Strukturierung ist ein unverzichtbarer Prozess in der Kinder- und Jugendhilfe, aber sie darf nicht zum Selbstzweck werden. Eine Gefährdungsabklärung bereitet einen Hilfeplanungsprozess vor und legt einem solchen überhaupt eine Legitimation zugrunde.

Die Kinder- und Jugendhilfe muss auch dann helfen, wenn die Betroffenen gar keine Hilfe wollen. Auch Hilfe gegen den Willen der Erziehungsberechtigten und ggf. auch der Kinder und Jugendlichen wird von der Kinder- und Jugendhilfe als Hilfe bezeichnet (§ 28 B-KJHG). Fachkräfte müssen manchmal Familien mit einer Einschätzung von Kindeswohlgefährdung konfrontieren, die nicht der Sichtweise der Familienmitglieder entspricht. Sie müssen sich gegen den Willen der Familien in deren Intimraum - ihre (Kinder)erziehung - einmischen und Veränderungen einfordern und ggf. auch durchsetzen (§ 211 ABGB). Das ist auch mit Macht verbunden - diese Macht wird von den meisten Fachkräften als Belastung erlebt. Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Legitimation dieser Macht erleichtert es, die Verantwortung anzunehmen.

Der Hilfe der Kinder- und Jugendhilfe ist ein enger gesetzlicher Rahmen gesteckt. Eingriffe in Familien sind nur unter bestimmten Bedingungen legitim.

§ 139 Abs 1 ABGB: Dritte dürfen in die elterlichen Rechte nur insoweit eingreifen, als ihnen dies durch die Eltern selbst, unmittelbar auf Grund des Gesetzes oder durch eine behördliche Verfügung gestattet ist. (siehe auch Art 8 EMRK, Art 16 Kinderrechtskonvention)

Eingriffe in die Familienautonomie bzw. die Obsorge sind dann legitimiert (andererseits auch von der Kinder- und Jugendhilfe bzw. dem Gericht gefordert), wenn sie zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung nötig sind.

Jedenfalls entscheidet letzten Endes das Gericht über die Rechtmäßigkeit solcher Eingriffe. Das heißt, die Kinder- und Jugendhilfe muss ggf. interimistisch handeln, auf jeden Fall aber die Sachlage für das Gericht und dessen Entscheidung genau erläutern.

§ 211 Abs 1 ABGB: Der Kinder- und Jugendhilfeträger hat die zur Wahrung des Wohles eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Bei Gefahr im Verzug kann er die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen; er hat diese Entscheidung unverzüglich, jedenfalls innerhalb von acht Tagen, zu beantragen. Im Umfang der getroffenen Maßnahmen ist der Kinder- und Jugendhilfeträger vorläufig mit der Obsorge betraut.

§ 181 Abs 1 ABGB: Gefährden die Eltern durch ihr Verhalten das Wohl des minderjährigen Kindes, so hat das Gericht, von wem immer es angerufen wird, die zur Sicherung des Wohles des Kindes nötigen Verfügungen zu treffen…

 

Allerdings legitimiert nicht jede Kindeswohlgefährdung einen Eingriff, sondern nur solche, die voraussichtlich nur mit einem Eingreifen von außen behoben werden können. Es geht also ganz klar um eine zukünftige Sicherung.

RIS-Justiz RS0048632: Bei der Entscheidung über die Obsorge für ein Kind ist ausschließlich dessen Wohl maßgebend, wobei nicht nur von der momentanen Situation ausgegangen werden darf, sondern auch Zukunftsprognosen zu stellen sind.

Wenn der Kinder- und Jugendhilfe (oder dem Gericht) eine Gefährdung zur Kenntnis kommt, die in der Vergangenheit definitiv bestanden hat, deren Wiederauftreten z.B. durch ein Handeln der Eltern, einen zufälligen Umstand oder auch nur das mittlerweile fortgeschrittene Alter des Kindes verunmöglicht wurde, so besteht keine Berechtigung für einen Eingriff. Es geht also um ein Risiko des zukünftigen Auftretens von Kindeswohlgefährdung das im Rahmen einer Gefährdungsabklärung eingeschätzt werden muss. Dieser prognostische Teil einer Gefährdungseinschätzung wird in der iLK als Risikoeinschätzung bezeichnet. (CAVE: oft wird Risikoeinschätzung oder Risk Assessment synonym mit Gefährdungseinschätzung verwendet – in der iLK wird vor dem Hintergrund der Gesetzeslage, die hier beides fordert, eine Unterscheidung gemacht).

 

Auch darf nur in dem Maße eingegriffen werden, das notwendig ist, um die Kindeswohlgefährdung abzuwenden.

§ 182 ABGB: Durch eine Verfügung nach § 181 darf das Gericht die Obsorge nur so weit beschränken, als dies zur Sicherung des Wohles des Kindes nötig ist.

Wenn die Kinder- und Jugendhilfe einen Antrag an das Gericht stellt, Verfügungen zu treffen, müssen also drei Fragen ausreichend klar bearbeitet werden:

  • Welche Kindeswohlgefährdung liegt vor?
  • Welche Veränderungen bräuchte es, um das Kindeswohl zu sichern bzw. für eine weitere gesunde Entwicklung?
  • Was erscheint das gelindeste Mittel zu sein, um diese nötigen Veränderungen in einem ausreichenden Zeitrahmen herbeizuführen?

Wenn in der Gefährdungsabklärung eine Kindeswohlgefährdung festgestellt wird, die eine Veränderung in den Abläufen der Familie notwendig erscheinen lässt, so besteht die Möglichkeit, dass im Rahmen eines Hilfeplangesprächs Hilfen vereinbart werden. Eine Veränderung und damit die Annahme einer Hilfe ist dann nicht mehr gänzlich freiwillig. Eine Vereinbarung über Hilfen, die die Kindeswohlgefährdung voraussichtlich beheben, kann aber den Gang zum Gericht ersparen.

§ 23 Abs 2 B-KJHG: Der Hilfeplan ist mit dem Ziel der Gewährleistung der angemessenen sozialen, psychischen und körperlichen Entwicklung und Ausbildung der betroffenen Kinder und Jugendlichen zu erstellen. Dabei sind die im individuellen Fall im Hinblick auf die Kindeswohlgefährdung aussichtsreichsten Erziehungshilfen einzusetzen, wobei darauf zu achten ist, dass in familiäre Verhältnisse möglichst wenig eingegriffen wird.

In diesem Rahmen müssen die Fragen mit den Betroffenen, den Erziehungsberechtigten und auch den Minderjährigen, geklärt werden, um dann geeignete Hilfen zu vereinbaren. Das Gesetz sieht diese Beteiligung vor:

§ 24 Abs 2 B-KJHG: (1) Kinder, Jugendliche, Eltern oder sonst mit Pflege und Erziehung betraute Personen sind im Rahmen der Gefährdungsabklärung zu beteiligen, vor der Entscheidung über die Gewährung von Erziehungshilfen sowie bei jeder Änderung von Art und Umfang der Erziehungshilfen zu beraten und auf die möglichen Folgen für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hinzuweisen.

(2) Die im Abs. 1 Genannten sind bei der Auswahl von Art und Umfang der Hilfen zu beteiligen. Ihren Wünschen ist zu entsprechen soweit die Erfüllung derselben nicht negative Auswirkungen auf die Entwicklung der betroffenen Kinder und Jugendlichen hätte oder unverhältnismäßige Kosten verursachen würde.

(3) Bei der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen ist auf deren Entwicklungsstand Bedacht zu nehmen.

(4) Von der Beteiligung ist abzusehen, soweit dadurch das Wohl der betroffenen Kinder und Jugendlichen gefährdet wäre.

Damit Familien im Hilfeplanprozess partizipieren können, müssen sie davor verstehen, um was es geht. Es muss ihnen transparent gemacht werden, welche Kindeswohlgefährdung von den Fachpersonen gesehen wird und was diese für die Entwicklungsperspektive des Kindes bedeutet. Sie können dann gegebenenfalls wichtige Informationen ergänzen (z.B. Ressourcen, Zustandekommen der Gefährdung etc.). So kann geklärt werden, welche Veränderungen notwendig bzw. ausreichend sind und mit welchen Hilfen sie am besten umgesetzt werden können. Die aktive Beteiligung derer, die etwas an ihrem Leben verändern sollen, ist maßgeblich für den Erfolg der Hilfen (Macsenaere & Esser, 2012). Das ist bei einer Unterstützung der Erziehung leicht nachvollziehbar - aber auch bei einer Vollen Erziehung ist die Haltung (zumindest Akzeptanz) der Erziehungsberechtigten und der Minderjährigen zu dieser Hilfe ein wichtiger Faktor für ihren Erfolg.

Familien an der Hilfeplanung wirklich zu beteiligen (nicht nur zustimmen zu lassen), ist eine große Herausforderung. Eine Kindeswohlgefährdung klar zu argumentieren ist schwierig genug. Sie aber so zu erklären, dass sie von Eltern im Sinne ihrer Kinder verstanden werden kann, dass der Fokus dabei auf dem Wohl der Kinder und nicht einer fehlplatzierten Schuldverteilung liegt, ist noch schwieriger. Prognosen zu stellen, wie sich die Gefährdung auf die Entwicklung der Kinder auswirken würde und welche Veränderungen deshalb nötig sind, um das Kindeswohl zu sichern, erfordert hohe Fachlichkeit. Wenn man dann auch noch offen sein will für die Vorschläge der Familien in der Hilfeplanung, muss man wirklich genau verstehen, welche Veränderungen zur Abwendung der Gefährdung notwendig sind. Natürlich wäre es da leichter, einfach eine Hilfe vorzugeben (z.B. 'eine UdE - die wird das schon machen') - das wäre aber nicht wirklich Partizipation. Der Aushandlungsprozess ist wichtig, weil darin gemeinsam eine Zukunftsvorstellung konstruiert wird (ohne die auch das Risiko wächst, Unterstützungen zu starten, bei denen weder Einigkeit noch gemeinsames Verständnis des Auftrages vorhanden sind).

Diesen Prozess zu moderieren, Familien in dieser schwierigen Situation einzuladen ihre Zukunft mitzugestalten und dabei Schritt für Schritt anzuleiten, ist neben den inhaltlichen Herausforderungen eine wichtige Aufgabe der Fachkräfte.

Die Bedürfnisanalyse nach der iLK unterstützt Fachkräfte nicht nur diesen Prozess zu strukturieren, sondern auch bei der zuvor nötigen eingehenden Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten des Falles - nur ein solides Verständnis der eigenen Sicht der Dinge erlaubt es, in einen partizipativen Hilfeplanungsprozess zu gehen.

Die Bedürfnisanalyse kann also als Denkschule verstanden werden. Es bietet sich an, dass eine Fachkraft an verschiedenen Punkten im Abklärungs- und Hilfeplanungsprozess mit Hilfe dieses Instrumentes die eigenen Gedanken ordnet. Diese geordneten Gedanken dienen dann als solide Basis für kollegiale Beratungen, Teambesprechungen etc., das Gespräch mit der Familie selbst und ggf. auch für einen schriftlichen Antrag ans zuständige Gericht.