Bedürfnisanalyse für Meldepflichtige nach § 37 BKJHG
Der Gesetzgeber verpflichtet zahlreiche Berufsgruppen und Branchen nach dem Bundes Kinder- und Jugendhilfe Gesetz zu einer klaren Meldepflicht gegenüber dem Kinder- und Jugendhilfeträger bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung. Die wenigsten, die zwar im beruflichen Alltag ständig mit Kindern zu tun haben, wissen umfassend über diese Pflicht Bescheid und wie sie zu erfüllen ist:
Mitteilungen bei Verdacht der Kindeswohlgefährdung § 37 BKJHG
(1) Ergibt sich in Ausübung einer beruflichen Tätigkeit der begründete Verdacht, dass Kinder oder Jugendliche misshandelt, gequält, vernachlässigt oder sexuell missbraucht werden oder worden sind oder ihr Wohl in anderer Weise erheblich gefährdet ist, und kann diese konkrete erhebliche Gefährdung eines bestimmten Kindes oder Jugendlichen anders nicht verhindert werden, ist von folgenden Einrichtungen unverzüglich schriftlich Mitteilung an den örtlich zuständigen Kinder- und Jugendhilfeträger zu erstatten:
- Gerichten, Behörden und Organen der öffentlichen Aufsicht;
- Einrichtungen zur Betreuung oder zum Unterricht von Kindern und Jugendlichen;
- Einrichtungen zur psychosozialen Beratung;
- privaten Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe;
- Kranken- und Kuranstalten;
- Einrichtungen der Hauskrankenpflege;
(2) Die Entscheidung über die Mitteilung ist erforderlichenfalls im Zusammenwirken von zumindest zwei Fachkräften zu treffen.
(3) Die Mitteilungspflicht gemäß Abs.1 trifft auch:
- Personen, die freiberuflich die Betreuung oder den Unterricht von Kindern und Jugendlichen übernehmen;
- von der Kinder- und Jugendhilfe beauftragte freiberuflich tätige Personen;
- Angehörige gesetzlich geregelter Gesundheitsberufe, sofern sie ihre berufliche Tätigkeit nicht in einer im Abs.1 genannten Einrichtung ausüben.
(4) Die schriftliche Mitteilung hat jedenfalls Angaben über alle relevanten Wahrnehmungen und daraus gezogenen Schlussfolgerungen sowie Namen und Adressen der betroffenen Kinder und Jugendlichen und der mitteilungspflichtigen Person zu enthalten.
(5) Berufsrechtliche Vorschriften zur Verschwiegenheit stehen der Erfüllung der Mitteilungspflicht gemäß Abs.1 und Abs.3 nicht entgegen.
Anders als in Deutschland (vgl. § 8a und § 8b SGB VIII – CAVE: Deutsches Recht) gibt es in Österreich keine Ausbildung zur „Insoweit Erfahrenen Fachkraft“ und auch „keinen Anspruch für Personen, die beruflich in Kontakt mit Kinder- oder Jugendlichen stehen, … auf eine Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.“
Das heißt im Klartext, diese Personen sind zunächst auf sich alleine gestellt, wenn sie den Verdacht oder die Vermutung hegen, dass es einem Kind nicht gut geht oder es gar in Gefahr ist.
Viele pädagogische Fachkräfte und Mitarbeiter*innen medizinischer Berufe berichten davon, dass sie schon einmal eine Meldung an das Jugendamt gemacht und dabei kein gutes Gefühl gehabt hätten. So berichten sie zum Beispiel, dass sie dann länger nichts mehr gehört hätten und plötzlich wäre das Kind nicht mehr in die Schule (bzw. Kindergarten/Hort) gekommen; oder für sie in der persönlichen Erfahrung noch schlimmer, das Kind wäre direkt von dort abgeholt worden. Einige Fachkräfte berichten auch vom unguten Gefühl, dass nach der Meldung für sie „Nichts“ passiert wäre. Sie hätten nichts mehr gehört und dem Kind wäre es aus ihrer subjektiven Wahrnehmung immer noch schlecht gegangen. Es wird vom Gefühl berichtet, dass die Sozialarbeiter*in sie nicht verstehen, sie nicht ernst in ihrer Sorge um das Kind und die Eltern nehmen und sich hinter der Verschwiegenheitspflicht verstecken würde. Oftmals berichten Fachkräfte auch vom Eindruck, rückblickend das Falsche gemacht zu haben. Solche Wahrnehmungen oder auch nur gehörte Geschichten erhöhen die Schwelle, Hinweise auf Gefährdungen von Kindern mitzuteilen bzw. teilweise sogar diese erst wahrzunehmen.
Viele Sozialarbeiter*innen an den Bezirksverwaltungsbehörden wissen über diese Erlebnisse Bescheid und versuchen in ihrer täglichen Arbeit entgegen zu wirken. Aber leider halten sich solche Geschichten (oft überzeichnete Erzählungen oder Gerüchte, aber manchmal leider auch auf ehrlichen Wahrnehmungen beruhend) sehr hartnäckig, verbreiten sich und werden nur sehr selten aufgearbeitet.
Die Änderung der Gesetze und Bezeichnungen in die aktuelle Kinder- und Jugendhilfe haben daran leider noch nicht genug geändert.
Sehr deutlich wird in der täglichen Arbeit, dass wirksamer Schutz für Kinder nur gemeinsam gelingen kann. Daher stellt die Leitlinie Kindeswohl den Anspruch, für die unterschiedlichen Disziplinen eine Begleitung in schwierigen Situationen und eine Grundlage zur Entscheidungsfindung über das weitere Vorgehen zu bieten. Die meldepflichtigen Personen müssen soweit ermächtigt werden, mit dieser sehr schwierigen und herausfordernden Situation sicher und zielgerichtet umgehen zu können. Eine gemeinsame Sprache und Beschreibung von Umständen, die für alle Beteiligten einen gemeinsamen Nenner bietet.
Im Grundverständnis der Leitlinie Kindeswohl steht der Ansatz, dass Veränderung nur über Beziehung geschehen kann. Beziehung zu den anvertrauten Kindern, deren Eltern, anderen Helfer*innen. Die positive Gestaltung dieser Arbeitsbeziehungen stellt bereits im Alltag eine Herausforderung dar. Besonders herausfordernd wird es, wenn erste Anhaltpunkte auftauchen, dass es einem Kind nicht gut geht und sich diese Anhaltspunkte zu einer ernsthaften Kindeswohlgefährdung verdichten.
Diese Gefühle und Anzeichen sind von den betroffenen Personen jedenfalls ernst zu nehmen und einer bestmöglichen Objektivierung zu unterziehen. Jedenfalls sehen die Standards der iLK vor, dass sich die wahrnehmende Person umgehend mit einer Kolleg*in und/oder der/dem Vorgesetzten den Austausch zu suchen. Die eigenen Gefühle sollten durch möglichst objektive Beobachtungen und Beschreibungen von konkreten Situationen für Außenstehende nachvollziehbar gemacht werden.
Unabhängig davon in welchem Bereich (Pädagogik, Medizin, Justiz etc.) gearbeitet wird, jede*r muss sich eine eigene Sicherheit und Fachlichkeit für den Begriff „Kindeswohl“ erarbeiten. Erst eine fundierte Auseinandersetzung mit der konkreten Bedürfnislage eines betroffenen Kindes bietet die Basis für weitere Gespräche und Planung der weiteren Schritte.
Den Kindern, Eltern und Familien muss in jedem Fall die Möglichkeit zu Mitwirkung und Mitgestaltung und soweit möglich zu Mitbestimmung eingeräumt werden. Es ist immer zu prüfen, ob die gewählten Maßnahmen und Schritte notwendig, angemessen und geeignet sind. Die Grundrechte der betroffenen Familie sind bestmöglich zu wahren.
Für die funktionierende Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendhilfe, sonstigen Helfer*innen anderer Professionen und Disziplinen ist es notwendig, dass diese die Bedenken und Gefühle nachvollziehen und verstehen können. Insbesondere bei komplexen Problemlagen ist das Herabbrechen auf konkrete Beispiele unumgänglich und gesetzlich vorgesehen. Natürlich muss im Rahmen des Gesetzes (insbesondere § 6 B-KJHG Verschwiegenheit; § 40 B-KJHG Datenverarbeitung) und je nach Sachverhalt abgewogen werden, welche Inhalte weitergegeben werden.
Erst wenn sich die Professionen untereinander verstehen, kann gemeinsam eine Veränderung eingeleitet werden. Dies gilt für Helfer*innen gleichermaßen, wie für die betroffene Familie.
Erst wenn das Kindeswohl verstanden wurde und Bedürfnisse benannt werden können, wird das vormals handlungsleitende Gefühl mit einer fundierten Fachlichkeit untermauert und kann zu einer gesunden Veränderung im System führen.